Hilfsprojekte

Was ist Wardak?

oder

Mädchen suchen eine Zukunft

Die Stiftsschule war und ist sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst. Sie hat deshalb auch immer wieder entsprechende Initiativen aus dem Kollegium unterstützt. Ich erinnere an den von Stefan Neubauer initiierten Spendenlauf (“Lauf für Somalia”), der im Landkreis bis jetzt viele Nachahmer gefunden hat.

Der Stiftsschule gelang es, mit gemeinsamen Aktionen eine Schule in Sri Lanka wiederaufzubauen, die durch den Tsunami von Dezember 2004 zerstört worden war. Hier hatte Tobias Brandt Verbindungen hergestellt.

Jetzt hat sich die Schule nach Gesamtkonferenzbeschluss die Unterstützung von ehemaligen Kindersoldaten in Uganda und von Mädchenschulen in Afghanistan vorgenommen.
Das erstgenannte Projekt ist im letzten Jahresbericht vorgestellt worden. Hier folgt nun der Bericht zu den home schools für Mädchen in Afghanistan.

Dieses Projekt ist nicht zu trennen von dem Einsatz des in Moischt wohnenden Ehepaars Ghafury. Vor zwanzig Jahren waren sie als Asylsuchende in den Landkreis gekommen. Durch Michael Fischer und den damaligen Oberstufenleiter Dr. Klaus Widdra kam ich mit dem Ehepaar Ghafury in Kontakt. Wir hatten nämlich in einer kleinen Gruppe den “Arbeitskreis Asyl Amöneburg” gegründet, den ersten Verein im Landkreis, der sich den Problemen der Asylsuchenden widmete.
Durch den langjährigen Kontakt mit Ehepaar Ghafury wurde mir klar, dass ich noch nie Menschen getroffen hatte, die sich in dem Ausmaß wie sie für ihre Mitmenschen, die Gesellschaft, in der sie leben, und ihre Heimat einsetzen. Neun Jahre musste Familie Ghafury auf die Anerkennung als Asylsuchende warten. Aber schon lange vor Abschluss des Asylverfahrens begannen sie Deutschkurse für Migranten und Kurse in Dari (der Hauptverkehrssprache Afghanistans) für afghanische Kinder zu organisieren. Sie gründeten einen gemeinnützigen Verein IAH (“Initiative Afghanisches Handwerk”, bald “Initiative Afghanistanhilfe”), der zunächst helfen wollte, afghanischen Flüchtlingsfrauen in Pakistan zu ermöglichen, Kleider zu nähen, die z.B. in “Dritte-Welt-Läden” verkauft wurden. Als diese Frauen berichteten, dass ihre Kinder keine Schule besuchen könnten, gelang es, -zwar unter armseligen Verhältnissen- einen Schulunterricht für afghanische Flüchtlingskinder zu organisieren. Für 15 DM im Monat konnte ein Kind zur Schule gehen (einschließlich der anteiligen Bezahlung des Lehrers). Frau Ghafury berichtete damals (1995) vor der Gesamtkonferenz der Stiftsschule von diesem Projekt. Sie gewann aus dem Bereich der Schule beträchtliche Unterstützung. Vor zwei Jahren traf sie in Canada eine afghanische Familie. Zwei Töchter studierten. Sie gehörten zu den Flüchtlingskindern, denen damals in Pakistan ein Schulunterricht ermöglicht werden konnte.

In der Talibanzeit organisierte die IAH eine Untergrundschule für Mädchen am Stadtrand von Kabul. In drei Schichten gingen die Mädchen zur Schule.

Nach einem ersten Kontakt mit der Heimat zwei Jahre zuvor entschloss sich Herr Ghafury 2008 nach langen Beratungen mit seiner Familie (damals besuchten noch zwei der vier Kinder die Martin-Luther-Schule in Marburg), nach Afghanistan zurückzukehren. Er wollte sehen, wie und wo er sich für die Zukunft seines Landes einsetzen könne. In seinem Heimatgebiet, der Provinz Wardak, fragte er, was am meisten benötigt werde. Mit der Antwort “Schulen für Mädchen” hatte er nicht gerechnet. Die Einstellung der Bevölkerung hatte sich während der Zeit, in der er in Deutschland lebte, verändert. Die Antwort war aber aus einem persönlichen Grund nicht leicht für ihn. Zwanzig Jahre vorher war ein Bruder beim Aufbau einer Mädchenschule von Mudschahedin getötet worden. Trotzdem entschied sich Herr Ghafury, diese Bitte aufzugreifen. Und er entwickelte eine Idee, die nach meiner Überzeugung ein Optimum mit geringen Mitteln erreicht:
Zunächst trugen sich die Eltern, die eine Mädchenschule wünschten, mit einer entsprechenden Erklärung in eine Liste für ihr Dorf ein. Die Dorfgemeinschaft muss kostenlos einen Raum für den Unterricht zur Verfügung stellen. Sie muss auch –nach ihrer Möglichkeit- für die Sicherheit der Schule sorgen und einen Vertreter für eventuell erforderlichen Kontakt mit den Taliban bestimmen, die in diesem Gebiet beträchtlichen Einfluss haben. Die IAH ist für die Lehrmittel, die Bezahlung des Lehrers und die Organisierung des Unterrichts zuständig. Das Programm orientiert sich an den staatlichen Schulen. Die Lehrer führen Unterlagen, die unseren Klassenbüchern entsprechen. Herr Ghafury ist gewissermaßen die Schulaufsicht. Die Lehrer treffen sich mit ihm und alle schulischen Dinge werden miteinander erörtert. Die vier bestehenden Schulen (“home schools”) können mit den staatlichen Schulen mithalten trotz der einfachen Verhältnisse (die Kinder sitzen am Boden auf einem Teppich, die Klassenraumtür steht offen). Eine der Folgen, mit denen man nicht gerechnet hatte, betrifft das soziale Gefüge im Dorf. Frauen, die keinerlei Perspektiven für ihr Leben hatten, kommen nun miteinander ins Gespräch, indem sie über ihre Kinder und deren Lernen sprechen; Mädchen können ihren Müttern Gelerntes weitergeben. Mitbringsel wie Mikado-Stäbchen lösen große Freude aus. Als im letzten Jahr die Taliban von den Lehrern der staatlichen (Jungen-)Schulen das Gehalt der Ferienmonate einforderten, konnten die vier Dorfgemeinschaften Entsprechendes für “ihre” Lehrer verhindern. Sie verwiesen darauf, dass es ja ihre Schulen seien, d.h. die der Dorfgemeinschaft.

Finanziert wurde die Arbeit bisher durch Spenden, die vor allem durch den großen Einsatz der IAH (und dort wieder durch den der Familie Ghafury) und in geringerem Maße durch Vermittlung des Arbeitskreises Asyl Amöneburg zustande kam. Neben Vereinen und Gruppen gebührt auch Einzelpersonen wie Landrat Robert Fischbach oder dem Marburger Oberbürgermeister Egon Vaupel besonderer Dank. Die Grundschule Amöneburg (die wie die Stiftsschule diese Arbeit unterstützt) hat nach einer Afghanistan-Woche mit verschiedenen Themengruppen 500 € durch Erträge des abschließenden Schulfestes beigetragen. Die Stiftsschule hat durch einen Spielzeugbasar und Spenden bei Konzerten einen beträchtlichen Beitrag geleistet. Victoria Selle und Philipp Rausch haben ausgehend von einer Arbeit im Kurs von Eugen Balzer Informationen und Unterstützung für das Afghanistan-Projekt organisiert. 

Momentan ist aber die Situation aus mehreren Gründen schwierig: Es gibt in den Dörfern, wo sich Eltern für eine Mädchenschule ausgesprochen haben, wo aber (noch) keine gegründet werden konnte, natürlich ein Stück Enttäuschung. Der Erhalt der bestehenden Schulen muss aber Vorrang haben. Zurzeit haben militärische Auseinandersetzungen in Wardak zugenommen. Staatliche Schulen mussten schließen. Die vier Mädchenschulen arbeiten weiter. Aber auch ihre Situation wird durch Kämpfe schwieriger. Die vorgesehene Eingliederung der Mädchenschulen in das Staatliche Schulsystem ist jetzt nicht opportun. Frau Ghafury ist von einer Autoimmunerkrankung betroffen. Sie darf und kann nicht mehr in dem Umfang arbeiten wie in den letzten Jahren. Deshalb befürchtet sie negative Auswirkungen für die Projekte. Und das belastet sie natürlich.

Ich sehe vor allem eine Notwendigkeit: Die Finanzierung der Mädchenschulen muss auf ein langfristig festes Fundament gestellt werden. Dazu wird die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen gesucht. Die IAH ist als NGO (non-governmental organisation) in Afghanistan anerkannt. Noch wichtiger erscheint mir (zumindest kurz- und mittelfristig) ein privater Unterstützerkreis. Wenn es z.B. gelänge, eine größere Anzahl von Personen / Familien zu gewinnen, die bereit sind (solange das für sie möglich ist), monatlich 5, 10 oder 15 Euro für die Sicherung der Mädchenschulen zur Verfügung zu stellen, wäre Wichtiges erreicht. Zuwendungsbescheinigungen für das Finanzamt werden von der IAH ausgestellt (IAH, Stichwort: Mädchenschulen, Konto: 17 00 15 40, BLZ: 533 500 00, SK MR-BID).

Klassenelterbeiräte können Shaima Ghafury (shaimaghafury@hotmail.de) oder mich (r-forst@web.de) für eine kurze (Zusatz)-Information zu einem Elternabend einladen. Die SV könnte Tochter Humma Ghafury, die im letzten Jahr ihr Abitur abgelegt hat, einladen. Auch für weitere Informationen stehen Frau Ghafury und ich zur Verfügung. Per E-Mail kann ich einen Text von Shaima Ghafury zur Flucht aus Afghanistan und das Leben in Deutschland zur Verfügung stellen. Auch im Internet finden sich Informationen über Shaima Ghafury. Sie hat in diesem Jahr das Bundesverdienstkreuz erhalten. Wenn Herr Ghafury für zwei-drei Wochen aus Afghanistan zurückkehrt, kann er auch von seiner politischen Arbeit berichten. Er setzt sich vor allem für eine Zusammenarbeit demokratisch ausgerichteter Parteien ein und ist auch publizistisch und als Hochschullehrer tätig. Ich halte seine Arbeit für außerordentlich bedeutsam. Aber dies ist ein anderes Feld.

Es wäre wunderbar, wenn wir, die wir uns der Stiftsschule verbunden fühlen, mithelfen könnten, dass sie ein sichtbares Zeichen der Anteilnahme und Solidarität über Räume und Religionen hinweg mit wissbegierigen Mädchen in den home schools in Wardak geben kann.

R. Forst