Hilfsprojekte

Die Flucht aus Afghanistan

Es war vier Uhr morgens, als ich mit meinem Mann und meinen drei kleinen Kindern, von denen ich eins noch im Arm trug, unser Haus in Kabul verließ. Bis vier Uhr bestand damals in der Stadt Ausgehverbot. Einerseits musste man so früh wie möglich, noch in der Dämmerung, das Haus verlassen, damit es der Sicherheitsdienst der Regierung in Kabul nicht bemerkt und andererseits konnte man erst ab vier Uhr hinausgehen. Meine letzten Momente in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, waren die schwierigsten. Ich stand im Hof vor der überdachten Treppe, die zur Tür an der Straße führte. Von hier konnte ich das Gebäude, welches meine Vergangenheit, meine glücklichen und unglücklichen Zeiten spiegelte, sehen. Genau diese Treppe trennte meine Vergangenheit von meiner Zukunft. Noch einen Schritt weiter, dann könnte ich nicht mehr zurück. Aber vorerst stand ich für eine Weile dort. Ich betrachtete das hellgrüne Haus, welches in der Dämmerung grau erschien, ließ meine glückliche Kindheit und die Jugendjahre Revue passieren lassen. Ich wanderte in meinen Gedanken durch viele erfüllte Jahre, in denen ich meine Kinder bekommen und sie auch zum Teil hier aufzogen hatte. Ich verabschiedete mich mit flüchtigen Blicken voller Schmerzen vom Haus und dem kleinen Hof, den Äpfelbäumen und der kleinen Fontäne, von jedem einzelnen Stein und Grashalm. Nachdem ich den einsamen Treppengang durchschritten hatte, fuhr ich mit meiner Hand an der kalten, eisernen, blauen Tür entlang und verabschiedete mich von ihr für immer.

Wir fuhren mit einem Taxi bis zum Busbahnhof. Dort warteten bereits einige Busse auf die Reisenden, um sie von Kabul nach Nordafghanistan zu bringen. Unser Ziel war es, im Norden die afghanische Grenze zu Tadschikistan zu überqueren und weiter nach Europa zu flüchten. Es war ein Montag, Anfang April 1992. Damals war der Salang-Tunnel im Hindukusch nur für zwei Tage in der Woche für die Reisenden von Süd nach Nord und zwei Tage für die von Nord nach Süd geöffnet. In den übrigen Tagen der Woche war der Tunnel nur für das Militär offen. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Mein Mann, die Kinder und ich hatten uns sehr ärmlich gekleidet, um jegliche Aufmerksamkeit zu vermeiden. Meine Brille störte mich sehr unter der blauen Burka, die ich zum ersten Mal anhatte. Hier trafen zwei widersprüchliche Welten aufeinander. Zum einen die Durchblick verschaffende Brille als Zeichen von Bildung und Fort-schritt und zum anderen die Durchblick versperrende Burka, als Zeichen des Analphabetismus und des Rückschritts. Doch in dieser Situation war die einzige Möglichkeit, sicher das Ziel zu erreichen, die Verbindung der beiden Elemente. Bevor wir in den Bus einstiegen, mussten wir den schwierigsten Abschied erleben, nämlich den von unseren zurückgebliebenen Verwandten und Familienmitgliedern. Das Leid meines Abschieds zu beschreiben, sind Wörter machtlos, allein meine Tränen könnten dies tun. So habe ich meine Stadt verlassen, die Stadt meiner Träume, meiner Trauer, meiner Freude, meiner guten und schlechten Erinnerungen. In nur einem Augenblick habe ich mich von all dem getrennt, was mein Leben ausmachte. Ich habe mich von meinem Geburtsort, meinen Verwandten und langjährigen Freunden und Nachbarn, von meinem Beruf, den Kollegen und Büchern und meinen Verpflichtungen, mit einem Wort, von meinen Wurzeln getrennt. Im Bus fing ich an, ein Gedicht zu verfassen, das ich nie beendet habe. Doch die ersten Zeilen habe ich nie vergessen und sie werden mich mein Leben lang begleiten:




Ich kenne deine Wunde und du kennst mein Glück,
leidenschaftlich wünsche ich mir, bei dir zu bleiben und verabscheue die
Distanz,
beschämt von meiner Entscheidung im Kampf um Leben und Tod,
lasse ich meine Seele leiden, um meinen Leib zu retten…


Als wir nach zwei Tagen und einer Nacht Tadschikistan erreichten, verabschiedete ich mich auch von der zweitägigen Burka. Wir waren noch unterwegs, als in Afghanistan der Bürgerkrieg ausbrach, in dem im Laufe von vier Jahren allein in Kabul mehr als 60 000 Menschen ums Leben kamen.


Leben in Deutschland

Jeden Tag, seit zwei Jahren, wenn ich von Moischt nach Marburg und zurück fahre, sehe ich einen großen Baum, der infolge eines Sturms entwurzelt wurde und auf einem kleinen Hügel am Straßenrand liegt. Im Frühjahr wird die Baumkrone sogar grün, obwohl der Baum am Boden liegt. Jedes Mal, ohne Ausnahme, erinnert mich dieser entwurzelte Baum an die Migranten, die durch einen starken Sturm entwurzelt worden sind. Die Frage, ob die Migranten hier in Deutschland wie dieser Baum wieder wachsen, wieder neue Wurzeln schlagen und Früchte tragen werden, ist die Grundfrage. Oder werden sie sofort austrocknen und nur für ihre Kinder leben und selber im erlebten Trauma weiter gefangen sein und darunter leiden?
Als ich mit meiner Familie nach Deutschland kam, konnte ich kein einziges Wort deutsch. Das erste Wort, das ich gelernt habe, war „Bahnhof“, ohne Artikel. Der tschechische Schlepper, der uns durch die grüne Grenze nach Deutschland gebracht hatte, warf uns und die anderen, die im Minibus saßen, auf einem leeren Parkplatz im Stadtzentrum von München raus und fuhr blitzschnell davon. Ich hatte von einem Verwandten die Empfehlung bekommen, das Wort „Bahnhof“ zu lernen. Damit konnte ich in einer Kombination mit Englisch den Bahnhof und die weiteren Wege bis zu unseren Verwandten in Deutschland finden. Der Bahnhof und die Schienen, sie waren für mich das Herz und die Adern des neuen Lebens in Deutschland.
Dank vieler Sprachen, die ich erlernt hatte und des asiatischen und islamischen kulturellen Hintergrunds konnte ich mit den Migranten aus Osteuropa, Asien und einigen anderen Ländern im Aufnahmelager und auch später in Marburg gut kommunizieren und mich verständigen. Trotz allem war mein wichtigstes Ziel der Erwerb der deutschen Sprache. Vom ersten Tag an habe ich angefangen, die Sprache zu erlernen und bis heute bin ich tagtäglich dabei, Neues in der Sprache zu lernen.
Dies war die einzige Rettung für mich. Das Ziel war, die deutsche Gesellschaft gut kennen zu lernen. Mit der gesellschaftlichen Dynamik des Landes bewusst zu leben, heißt mit offenen Augen leben, genießen, leiden, fallen, aufstehen und weitergehen.

Vom ersten Tag an erhielten ich und meine Familie das Existenzminimum zum Lebensunterhalt für Migranten in Deutschland. Das war natürlich lebenswichtig. Jedoch gab es genug andere Gründe zur Besorgnis: Die Nachrichten vom Bürgerkrieg im Lande, das afghanische Flüchtlingsdrama in Pakistan und in anderen Ländern. Die Mutlosigkeit und Perspektivlosigkeit der früheren Migranten, ihre Angst vor der Zukunft der Kinder, die rechtlichen Probleme und viele andere gesellschaftlichen und privaten Probleme hielten uns gefangen. Es kam nicht nur einmal vor, dass ich von einigen Bekannten und Verwandten in Deutschland in einem ironischen Ton hören musste, dass ich mein Diplom wegwerfen solle, weil dies in Deutschland keine Bedeutung mehr habe. Einmal sagte eine Frau, die mich fast seit der Kindheit kannte: „Worin liegt nun der Unterschied, dass du fast dein ganzes Leben gelernt hast und ich nicht? Wir erhalten hier beide die gleiche Sozialhilfe und deine Bildung wird dir hier nicht weiterhelfen.“ Ich muss sagen, diese Leute waren keine Feinde von mir und sagten dies nicht aus Missgunst, aber diese Meinung herrschte mindestens in der uns bekannten afghanischen Gesellschaft in Deutschland vor. Diese Zeiten sind mir sehr schwer gefallen. Ich stellte mir immer die Frage: Ist es wahr, dass mit der Migration meine Persönlichkeit für immer erloschen ist, habe ich fast 30 Jahren umsonst gelernt, werden meine Erfahrungen niemandem etwas bedeuten, muss ich für immer eine Last für die Gesellschaft sein, habe ich keine Ressourcen, die für diese Gesellschaft auch nützlich sein können? Diese Fragen quälten mich, aber das Leben ging weiter. Durch unsere Kinder lernten wir in der Schule und im Kindergarten wunderbare Menschen kennen, die uns als Persönlichkeit betrachteten. Sie zeigten Verständnis und Respekt, sie interessierten sich für unsere Geschichten und Erlebnisse. Neben den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sozialamtes waren sie die ersten Kontakte zur Gesellschaft für uns.
Nach zwei Monaten konnte ich kleine Gespräche führen. Ich lernte zusammen mit den Kindern die deutsche Sprache. Mein Mann und ich führten einen Wettbewerb im Deutschlernen. Jeden Tag fragten wir uns die aufgeschriebenen Wörter in unseren Heftchen gegenseitig ab.
Die Situation in Afghanistan verschärfte sich. Die Flüchtlingstragödie ging weiter. Wir vergaßen unsere persönlichen Probleme. Unsere Gedanken waren bei den Verwandten und den Menschen in Afghanistan. Wir konnten nicht gleichgültig bleiben und nur zusehen und weinen. Genau da sollten wir unsere Fähigkeiten nutzen. Die Zeit und die Situation gaben uns eine Aufgabe. Nach vielen Jahren, wenn ich jetzt zurückschaue, kann ich mit Gewissheit sagen, dass wir diese Aufgabe nach unseren Möglichkeiten gut erfüllt haben. Wir engagierten uns ab 1993 politisch und sozial für Afghanistan. Damals erhielten in Afghanistan die ethnischen Unterschiede ein bisher unbekanntes Gewicht. Mein Mann und ich gehören zwei verschiedenen Ethnien an, aber die Unterschiede bedeuten nicht Trennung und Streit, sondern Bereicherung und Vielfalt in unserer Familie. Deshalb haben wir versucht, für die nationale Einheit des afghanischen Volks zu arbeiten. Außerdem organisierten wir eine Hilfsinitiative für Flüchtlinge in Pakistan, die „Initiative afghanisches Handwerk“. Durch diese Arbeit lernten wir neue Freunde kennen. Wir haben den "Dritte-Welt-Laden" entdeckt, und dadurch bekam unser Verein eine gute Unterstützung. Im Jahr 1995 hielt ich zum ersten Mal einen Vortrag mit Diskussion über die Situation in Afghanistan im Geographischen Institut in Marburg. Wenn ich jetzt zurückblicke, war das sehr mutig. Um mit einer deutschen Sprache, gelernt in der Volkshochschule, nach zweieinhalb Jahren einen Vortrag zu halten, muss eine große Motivation dahinterstecken. Und ja, ich sehnte mich nach einem Aufschrei für mein Land und meine Landsleute. Und dieses innere Gefühl verscheuchte die Angst vor der Ohnmacht in der deutschen Sprache und vor der Unsicherheit gegenüber Kritik. Ich bin meiner damaligen Nachbarin sehr dankbar dafür, dass sie meinen vorgeschriebenen Vortrag sprachlich korrigierte und tippte. Einige Afghanen arbeiteten eng mit uns zusammen, manche staunten sehr, manche sprachen gut, einige schlecht über uns. Es war keine leichte Zeit. Doch es war uns egal. Denn viel wichtiger war es, dass wir unserem Herzen und Gewissen treu bleiben konnten und danach gehandelt haben. Wir haben durch unsere Tätigkeit die Solidarität der Menschen, im Namen der Menschlichkeit, für afghanische Flüchtlingsfrauen und Kinder gestärkt. Wieder einmal wurde bewiesen, dass Menschlichkeit wichtiger und großartiger ist, als die Unterschiede zwischen den Menschen. Dadurch wurden viele Frauen und ihre Familien gerettet. Einige Kinder, die damals in der Migration in Pakistan durch diese Unterstützung zur Schule gingen, studieren jetzt.

Das ganze ehrenamtliche Engagement brachte uns auch wichtige Dinge bei, wie neue Erfahrungen, Selbstbewusstsein und den Mut etwas zu ändern, Bekanntschaften und Vertrauen zu Menschen und zu sich selbst. Die Lehren dieser Jahre und dieser Arbeit hätten wir in keiner Universität der Welt erlernen können.

Ab 1995 konnte ich eine Tätigkeit in der pädagogische Familienhilfe finden und ab 1996 nutzte ich die Möglichkeit, die es unter anderem auch für Migranten gab, eine BSHG - Stelle aus dem Förderprogramm des Sozialamts im Marburger Frauenhaus zu erhalten. So wurde es mir möglich, mit eigener Arbeit den Lebensunterhalt für die ganze Familie zu verdienen und die neuen Arbeitsmethoden in Deutschland und die Zusammenarbeit mit den Deutschen am Arbeitsplatz kennen zu lernen.

Danach habe ich mich dafür eingesetzt, dass die Stadt Marburg für Migrantinnen eine Beratungsstelle schafft. Die Marburger Frauenbeauftragte verlangte ein Konzept dazu, und ich schrieb dies aus meiner Erfahrung und Betroffenheit. Dieses ist mir anscheinend gelungen. Das Arbeitsamt und die Bürgerinitiative für soziale Fragen e.V. (BSF) haben mich -probeweise für ein Jahr für Migrantenarbeit im Rahmen einer SAM – Stelle aus dem Förderprogramm des Arbeitsamtes am Richtsberg in Marburg eingestellt. Dort sind mehr als die Hälfte der Bewohner Migranten. Meine Arbeit wurde für drei Jahre nach einer einjährigen Probezeit verlängert. Nach der Zusammenlegung der „Bürgerinitiative für soziale Fragen“ und des „Treffpunkts Richtsberg“ im Jahr 2003 habe ich eine Stelle als Sozial- und Schuldnerberaterin erhalten, jedoch unter der Voraussetzung, eine Fortbildung in diesem Bereich zu absolvieren. Natürlich war ich hierfür bereit. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich den Menschen am Richtsberg, ungeachtet ihrer Nationalität, mit Rat und Tat zur Seite stehen kann. Neben meinem Beruf arbeite ich immer noch ehrenamtlich mit wunderbaren Menschen für Afghanistan und die afghanischen Migranten in Marburg. Jetzt lebe ich seit 16 Jahren in Deutschland. Wie all diese Jahre vergangen sind, kann ich nicht fassen. Wichtig ist, dass ich die innere Zufriedenheit, die mir zu Beginn verloren gegangen war, zurückerhalten habe. Durch einen sehr dynamischen und zielstrebigen Lebensstil ist unsere Familie von den typischen Migrationskrankheiten verschont geblieben, wie Depression, Eheproblemen, Generationskonflikt, Verwahrlosung der Kinder, Isolation im Umfeld und Assimilation von Seiten der neuen Gesellschaft. Meinen vier Kindern sind dank der familiären Atmosphäre beide Kulturen nicht fremd. Sie haben wahrscheinlich gelernt, die guten Seiten beider Kulturen zu verinnerlichen.

Trotz Arbeit und wirtschaftlicher Unabhängigkeit lebten meine Familie und ich neun Jahre lang ohne „Aufenthaltserlaubnis“, manchmal nur mit der „Duldung“, eine zeitlang nur mit „Aufenthaltsgenehmigung“. Und so mussten wir auch Einschränkungen hinnehmen. Doch die Unterstützung und der Trost der Gesellschaft, wie der Nachbarn, Freunde, Bekannten, der Kolleginnen und Kollegen, mancher Ämter und einiger Politikerinnen und Politiker haben uns vor Enttäuschung geschützt und uns Courage und Kraft gegeben.

Ich habe hier ein neues Zuhause gefunden. Und wenn man an den Baum denkt, kann ich sagen, dass wir hier in Deutschland neue Wurzeln geschlagen haben. Wenn wir irgendwann nach Afghanistan zurückkehren, wird diese Trennung wieder sehr schmerzhaft sein. Obwohl ich das Glück eines zweifachen Zuhause habe, sind meine Gefühle dennoch zerrissen. Den alten Gefühlszustand und das Seelengleichgewicht, die ich in Afghanistan hatte, werde ich nie mehr finden. Es wird mir immer etwas fehlen: in Deutschland die Wurzel von Afghanistan und in Afghanistan die Wurzel von Deutschland.

Shaima Ghafury, shaimaghafury@hotmail.com 2008